Film-Kritik: Johnny Ma präsentiert im Forum der Berlinale „Lao Shi“ eine Welt ohne Hilfsbereitschaft
Der Mann hinter dem Steuer raucht eine Zigarette nach der anderen und trinkt aus einer kleinen Schnapsflasche. Es ist Nacht, er und sein Auto sind in das rote Licht der Stadt getränkt. Schon fast panisch verfolgt er einen Rollenfahrer, der es anscheinend nicht eilig hat. Beide schlagen sich durch die Nacht – doch etwas wird passieren, wenn sie sich begegnen.
„Lao Shi“ ist die Geschichte eines Mannes, der Zivilcourage zeigt und dafür bitter bezahlen muss. Der Titelheld Lao Shi, ein Taxifahrer, wird durch einen betrunkenen Fahrgast in einen Unfall verwickelt. Der Fahrgast verschwindet. Lao Shi setzt alles daran, einen verletzten Radfahrer zu retten. Der Krankenwagen braucht zu lange, daher fährt er ihn kurzerhand selbst ins nächste Krankenhaus, wo er auch die anfallenden Operationskosten übernimmt.

Für seine gute Tat muss er bitter büßen. Foto: Berlinale
Doch diese gute Tat verändert alles in Lao Shis Leben: Die Versicherung will nicht zahlen, weil er sich nicht ans Protokoll gehalten und am Unfallort auf die Polizei gewartet hat; die Familie des Verletzten hat kein Geld, also zahlt Lao Shi weiter, auch als dieser ins Koma fällt. Daraufhin verlässt ihn seine Frau und sperrt seinen Zugang zu ihren Konten. Wie Dominosteine fallen nach und nach Lao Shis gewohnte Lebensumstände in sich zusammen.

Johnny Ma. Foto: Berlinale
Regisseur Johnny Ma inszeniert in seinem Film „Lao Shi“ („Old Stone“) eine Welt ohne Mitgefühl. Oberflächlich gesehen sind alle Bewohner dieser Welt so höflich, dass es schon absurd scheint. So ist es üblich, jedem im Raum eine Zigarette anzubieten, sobald man diesen betritt. Das wird soweit auf die Spitze getrieben, dass ein Polizist auf dem Präsidium mindestens zehn Zigaretten neben seinem Schreibtisch liegen hat. Doch sobald es um wirklich Probleme geht, ist sich in Johnny Mas Film jeder selbst der nächste: Lao Shis Anwalt merkt beispielsweise nur trocken an, dass Lao Shi in weniger Schwierigkeiten wäre, wenn er den Radfahrer am Unfallort sterben lassen hätte – juristisch gesehen.
„Lao Shi“ ist eine Warnung vor einer Welt ohne Zivilcourage, in der sich jeder selbst am nächsten steht. Die Kamera begleitet den Protagonisten ganz nah, Schritt für Schritt und dokumentiert seinen Verfall – bis zu dem Zeitpunkt, als Lao Shi zum Handeln gezwungen wird: Wird er nach seinen eigenen moralischen Grundsätzen handeln oder nach denen seiner Mitmenschen? Spielt sein Handeln in einer solchen, dem Untergang geweihten Welt überhaupt eine Rolle?
Barbara Oswald
Die Kritik Der hilflose Samariter erschien zuerst auf cult: Kulturzeitung der bayerischen Theaterakademie cult:online - Kritik.