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Channel: Film – cult:online – Kritik
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Utopie und Realität

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Film-Kritik: Thomas Vinterbergs „Kollektivet – The Commune“ im Wettbewerb der Berlinale über ein soziales Experiment in den 1970er Jahren

Wenn der eigene Ehemann süß, aber langweilig ist, muss Abwechslung her – und die erfolgreiche Nachrichtensprecherin Anna (Trine Dyrholm) hat die Lösung: Das riesige Haus, das ihr Mann Erik (Ulrich Thomsen) von seinen Eltern geerbt hat, ist perfekt geeignet, um eine Kommune zu gründen. Ein Haus mit phantastischen Menschen füllen, gemeinsam etwas Großes erschaffen, nach Idealen von Konsens, Verständnis und Wertschätzung leben – keine ungewöhnliche Vorstellung im Dänemark der 1970er Jahre. Nach anfänglichem Zögern lassen sich Erik und die 14-jährige Tochter Freja zu dem Experiment überreden. Annas erster Wunschkandidat, ihr Jugendfreund Ole, darf ebenso einziehen wie Ditte, eine „manipulative Schlampe“, und diverse andere Verrückte, die in einem ausführlichen Casting mit sehr persönlichen Fragen gemeinsam ausgewählt werden. Es folgen skurrile Hausversammlungen mit Abstimmungen über wichtige Themen wie eine Bier-Amnestie, Gesprächsrunden, in denen jeder Bewohner ehrlich Auskunft über die eigene Befindlichkeit geben muss, und gemeinsames Nacktbaden im Meer. Anna ist glücklich – bis Erik, der als Architekturdozent arbeitet, eine Affäre mit seiner jungen Studentin Emma (Helene Reingaard Neumann) beginnt.

Thomas Vinterberg. Foto: Marc Høm

Thomas Vinterberg. Foto: Marc Høm

Der 1969 geborene Regisseur Thomas Vinterberg, Mitbegründer der Dogma-Bewegung, erzählt in „Kollektivet – The Commune“ über ein Experiment in den Siebzigerjahren, das frei auf seinen eigenen Kindheitserlebnissen beruht. Der Film ist im Wettbewerb der Berlinale zu sehen und basiert auf Vinterbergs Theaterstück „Die Kommune“, das 2011 am Wiener Burgtheater uraufgeführt wurde.

Mit einer gewissen Nostalgie blickt der bis ins kleinste Detail perfekt mit 70er-Jahre-Requisiten ausgestattete Film auf eine Zeit zurück, in der es selbstverständlich war zu teilen und in der Werte wie Gemeinschaft, Großzügigkeit und Hilfsbereitschaft noch eine Bedeutung hatten.

Nächster Programmpunkt: Nacktbaden! Foto: Henrik Petit

Nächster Programmpunkt: Nacktbaden! Foto: Henrik Petit

Ob diese Großzügigkeit allerdings so weit gehen sollte, auch den eigenen Ehemann zu teilen, ist eine Frage, mit der sich Anna plötzlich auseinandersetzen muss, als Erik sich in Emma verliebt. Um ihren Mann  nicht zu verlieren, schlägt Anna vor, dass Emma ebenfalls ins Haus einziehen soll. „Erik hat das Recht, seinen Gefühlen zu folgen. Es wird spannend“, versucht sie, sich die Situation schönzureden – ohne dabei an ihre eigenen Gefühle zu denken.

3 is a crowd? Denkste! Foto:  Henrik Petit

3 is a crowd? Denkste! Foto: Henrik Petit

Das Zusammentreffen der betrogenen Ehefrau mit der Rivalin, die eine zwanzig Jahre jüngere Version von ihr sein könnte, hätte viel Stoff geboten, um die Geschichte als amüsante Gesellschaftskomödie  – vielleicht etwas bösartiger als vorher – weiterzuerzählen.

Die grandiose Trine Dyrholm. Foto: Henrik Petit

Die grandiose Trine Dyrholm. Foto: Henrik Petit

Stattdessen wandelt sich der Film mehr und mehr zur tragischen Studie einer Frau, die an ihren eigenen Idealen zu zerbrechen droht. Trine Dyrholms Darstellung der Anna ist grandios: Die Fassade der starken, selbstbewussten Frau bekommt zunehmend Risse; sie leidet entsetzlich und versucht dennoch verzweifelt, ihre Würde zu bewahren, während ihr die Kontrolle über ihr Leben mehr und mehr zu entgleiten droht. Unbarmherzig begleitet die Kamera Annas Verfallsprozess, ruht auf ihren zitternden Händen, wenn sie keinen Alkohol in der Nähe hat, sieht jede Unebenheit und jedes Fältchen und zeigt in Großaufnahme, wie ihre Augen sich langsam mit Tränen füllen, wenn sie die Situation einfach nicht mehr aushält. Sie sehnt sich nach ihrem Mann, stellt sich vor, wie es wäre, ihn zurückzugewinnen – und weiß doch genau, dass es nur ein Traum bleiben wird. Ständig von anderen Menschen umgeben, ist sie nie allein, aber so einsam, dass es nur schwer zu ertragen ist. Man leidet mit ihr, während ihre Verzweiflung immer stärker wird. Ein Nervenzusammenbruch in einer Live-Sendung kostet sie schließlich ihren Job – die Utopie, dass alles möglich ist, konnte der Realität nicht standhalten. Dass weder ihr Mann noch die Mitbewohner Anna helfen können und allein ihre 14-jährige Tochter erwachsen genug ist, die richtige Lösung für alle zu finden, stimmt trotz eines versöhnlichen Endes sehr nachdenklich.

Christina Prasuhn

Die Kritik Utopie und Realität erschien zuerst auf cult: Kulturzeitung der bayerischen Theaterakademie cult:online - Kritik.


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