Film-Kritik: Die Dokumentation „Fuocoammare“ im Wettbewerb der Berlinale zeigt den Kontrast zwischen dem Leben auf Lampedusa und dem Schicksal der Flüchtlinge
Weiße Sandstrände, unberührte Natur und malerische Dörfer, deren Bewohner seit Generationen von der Fischerei leben – auf einer kleinen Insel irgendwo im Mittelmeer scheint die Zeit stehengeblieben zu sein. Der zwölfjährige Samuele und seine Freunde klettern in ihrer Freizeit auf Felsen, basteln Steinschleudern, mit denen sie auf Vögel oder Kakteen schießen, und hören sich immer wieder gern die Geschichten ihrer Eltern über das harte Leben auf See an. Im Radio läuft ein Wunschkonzert mit italienischen Schlagern – besonderes beliebt bei den Hörern ist „Fuocoammare – Feuer auf See“ aus dem Zweiten Weltkrieg, das der Moderator bei schlechtem Wetter den Seeleuten widmet. Ein idyllisches Leben, das auch durch die zahlreichen Kriegsschiffe und Patrouillenboote vor der Küste der Insel Lampedusa nicht gestört werden kann.
In seiner Dokumentation „Fuocoammare – Feuer auf See“, die im Wettbewerb der Berlinale gezeigt wird, schildert der italienische Dokumentarfilmer Gianfranco Rosi den Kontrast zwischen dem traditionellen Leben der Bewohner von Lampedusa und dem Schicksal der Flüchtlinge, die unter Einsatz ihres Lebens versuchen, auf überfüllten Booten aus Afrika in das nur 130 km entfernte Europa zu gelangen. Auch wenn sich der Film zunächst auf die unbeschwerte Kindheit des Protagonisten Samuele konzentriert, lassen die am Anfang eingeblendeten Zahlen – von 400.000 Flüchtlingen sind mindestens 15.000 gestorben – keinen Zweifel am eigentlichen Thema. Gianfranco Rosi, dessen Dokumentation „Das andere Rom“ 2013 in Venedig als erster Dokumentarfilm mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet wurde, nimmt sich viel Zeit, die verschiedenen Erzählstränge kunstvoll miteinander zu verknüpfen, und wartet fast bis zum Ende des Films, bevor die wirklich schockierenden Bilder zu sehen sind.

Gianfranco Rosi. Foto: Gianfranco Rosi
Vorher ist vieles der Phantasie überlassen: Der Notruf einer verzweifelten Frau, die panisch um Hilfe bittet, ist nur über Funk zu hören; gezeigt wird stattdessen die gelassene Reaktion eines Angestellten der Küstenwache, bevor der Rettungshubschrauber auf einem Schiff bei Sonnenaufgang startet. Immer wieder schwelgt die Kamera in wunderbaren Naturaufnahmen und zeigt auch in anderen Szenen überwältigende Bilder von seltsamer Schönheit: Eine Gruppe von Flüchtlingen, die in goldglänzende Isolierdecken gehüllt auf die ärztliche Untersuchung warten, wirkt wie aus einer anderen Welt.
Eine besondere Stärke des Films liegt darin, dass er auf jeden Kommentar verzichtet und seine Wirkung allein durch die Verbindung und Gegenüberstellung der unterschiedlichen Szenen erreicht.
Die Kleidung vieler Flüchtlinge ist nicht nur vom Meerwasser durchnässt, sondern komplett in Diesel getränkt – der lakonische Kommentar eines italienischen Polizisten: „Wenn ich jetzt ein Feuerzeug anmache, brenne ich.“ Auf deprimierende Szenen wie diese folgt jedes Mal ein lustiger Moment aus dem Leben von Samuele, dessen Naivität, Witz und häufig unfreiwillige Komik zu einer kurzen Auflockerung führen – mit der Konsequenz, dass keine Abstumpfung des Zuschauers möglich ist und die nächste furchtbare Szene eine mindestens genau so starke Wirkung wie die vorherige erreichen kann.

Wunderschöne Natur wechselt mit katastrophalen Aufnahmen. Foto: Samuele Pucillo
Der Arzt Pietro Bartolo erzählt, dass er sich nie daran gewöhnen wird, Leichen zu untersuchen, und erklärt, dass er den Toten Blut abnehmen, einen Finger, eine Rippe oder ein Ohr abschneiden muss, um eine Identifikation zu ermöglichen. Er zeigt das Foto eines Jungen, dessen Körper von schweren Verbrennungen durch Treibstoff übersät ist, und stellt fest: „Jeder Mensch, der sich als solcher bezeichnet, hat die Pflicht, diesen Menschen zu helfen.“
Ob die Einwohner von Lampedusa und die Flüchtlinge wirklich in Parallelwelten existieren können, zwischen denen es überhaupt keine Überschneidungen gibt, bleibt zwar offen. Dass Samuele häufig Probleme beim Atmen hat, weil ihm – wie Pietro Bartolo diagnostiziert – eine undefinierbare Angst die Kehle zuschnürt, ist allerdings ein Hinweis, dass er doch mehr von der Situation mitbekommt, als es zunächst den Anschein hat. Ein anderes gesundheitliches Problem von Samuele dient als Metapher für weitaus größere Zusammenhänge: Er hat ein sogenanntes „träges Auge“, das zwar funktionsfähig ist, aber keine Signale ans Gehirn sendet. Durch ein spezielles Training, bei dem das andere Auge verdeckt wird, soll das Gehirn gezwungen werden, wieder beide Augen zu benutzen – und Unangenehmes nicht mehr ausblenden zu können. Ein glücklicher Zufall, den der Regisseur, der nach eigener Aussage keinen politischen Film machen, sondern einfach von menschlichen Schicksalen erzählen wollte, bei der Auswahl seines Protagonisten nicht vorhersehen konnte.
Erst nach 90 Minuten wird ein Flüchtlingsboot aus der Nähe gefilmt: Helfer in weißen Schutzanzügen und mit Masken zerren erschöpfte, leblose junge Männer auf die Patrouillenboote hinüber. Einige liegen ohnmächtig am Boden, viele werden beatmet. Alle sind dehydriert und brauchen trockene Kleider. Wie viele von ihnen überleben werden, ist unklar. Im Hintergrund weinende Frauen. Als die Überlebenden versorgt sind, werden die Toten an Bord gebracht. 40 Leichensäcke in einer Ecke gestapelt. 15 weitere folgen.
Christina Prasuhn
Die Kritik Das träge Auge erschien zuerst auf cult: Kulturzeitung der bayerischen Theaterakademie cult:online - Kritik.