Film-Kritik: In der Berlinale Special Gala will Regisseur Terence Davies in „A Quiet Passion“ die Verschrobenheit der Poetin Emily Dickinson erklären
Von allen Seelen die geschaffen
Hab eine ich – erwählt
Wenn Sinn von Geist sich trennt
Und Ausflucht – nicht mehr zählt
Wenn das was ist – und das was war
Für sich – und wahrhaft – steht
Und dieses kurze Erdenstück
Wie Treibsand – ist verweht
Wenn Formen ihre Schönheit zeigen
und Nebel weggewallt,
Siehe die Urform – die ich meine
Vor aller Lehmgestalt!
(Emily Dickinson)
Auf dem Mount Holyoke College ist es wichtig, sich zu entscheiden. Die Mädchen werden gefragt, ob sie sich nach ihrem Glauben richtig verhalten und sich schon nah bei Gott fühlen – diese werden nach rechts geschickt – oder ob sie noch dafür beten, von Gott gerettet zu werden. Alle positionieren sich. Alle bis auf ein rothaariges Mädchen, das in der Mitte des Raumes stehen bleibt. Sie sehe es nicht ein, sich einzuordnen. Sie lebe ihren Glauben so, wie sie es für richtig hielte: treu und bedingungslos, doch nicht an die Konventionen der Kirche gebunden.
Emily Dickinson wird ihr Leben lang nie richtig zu einer Gruppe gehören. Sie wird immer alleine sein, sei es in ihren Ansichten oder ganz grundsätzlich im Leben. In „A Quiet Passion“ hat nun Regisseur Terence Davies versucht, das Leben der amerikanischen Dichterin auf die Leinwand zu bannen. Das ist nicht gerade eine leichte Aufgabe. Denn die letzten 15 Lebensjahre hat Emily Dickinson nur in ihrem Zimmer verbracht, stets weiß gekleidet, mit anderen Menschen hat sie nur durch die Tür hindurch kommuniziert. Alles was ihr blieb, war das Schreiben.

Emily allein Zuhaus. Foto: Johan Voets © A Quiet Passion
Einer Geschichte, in der die Handlung so statisch ist, muss eine andere Kraft verliehen werden. Das Drehbuch von Terence Davies versucht es mit Worten. Immer wieder spricht Cynthia Nixon, in der Hauptrolle zu sehen, Gedichte und Briefe von Emily Dickinson aus dem Off. Und die Dialoge im Film sind zumeist tiefgründige politische, religiöse oder moralische Diskussionen. Vor allem mit ihren Geschwistern, die ihr als einzige in den letzten Jahren irgendwie nahe kommen durften, setzt sie sich stets intellektuell auseinander. Wie in einer Art Kammerspiel kreisen Cynthia Nixon, Jennifer Ehle und Duncan Duff als die drei Geschwister Emily, Vinnie und Austin umeinander und verhelfen sich so gegenseitig zu mehr Strahlkraft. Diese Inszenierung würde hervorragend im Theater funktionieren, wird aber im Kino sehr schnell ermüdend.

Terence Davies. Foto: Johan Voets © A Quiet Passion
Im Gegensatz zu vielen anderen Verfilmungen von Literatenbiografien geht „A Quiet Passion“ dadurch jedoch viel mehr auf das Werk des Dichters ein und setzt sich mit ihm intensiv auseinander. Das ist dann zwar erfrischend zu sehen, doch bleibt die Figur der Emily Dickinson hinter dieser Werkstudie zurück. Eine Frau, die stets als verschroben beschrieben wird, wohl schon in jungen Jahren an Depressionen litt und nie wirklich ihre Heimatstadt verließ, als runde Figur darzustellen, ist nachvollziehbar schwierig. Terence Davis will ihre seltsame Art erzählen, schafft dies aber nur bedingt: In seinem Film ist Emily Dickinson die Frau, die vom Verlassenwerden verfolgt ist, jeden Umzug eines Freundes als dessen Tod betrachtet und sich mehr und mehr in sich selbst zurückzieht. Wirklich nahbar wird diese Emily Dickinson nicht.

Alles, was ihr bleibt, ist das Schreiben. Foto: Johan Voets © A Quiet Passion
Und doch schafft der Film einen Einblick in ihren brillianten Geist, gerade auch durch die eingesprochenen Textpassagen wird etwas von ihrem Genie vermittelt. Der amerikanischen Schriftstellerin, die meist nur in intellektuellen Kreisen diskutiert wird, eine größere Plattform zu geben und mithilfe eines opulenten und wunderschön ausgestatteten Films eine große Zuschauerschaft zu erreichen, ist „A Quiet Passion“ auf jeden Fall gelungen.
Barbara Oswald
Die Kritik Einsamkeit in Weiß erschien zuerst auf cult: Kulturzeitung der bayerischen Theaterakademie cult:online - Kritik.